Man darf auch weben, was man nicht sieht – so lautet der Titel eines Kataloges mit Teppichen von Dieter Roth und Ingrid Wiener, aus dem Jahre 2007/2008. Zwei Jahre später beginnt Ingrid Wiener das zu weben, was sie gesehen hat. In ihrer 12-teiligen Gobelin-Arbeit „ NORDEN (Lincoln Ellsworth)“ präsentiert sie den weiten Blick aus einem Flugzeug-Fenster, über ausgedehnte Strecken Kanadas hinweg, der arktischen Tundra, samt der Alaska Range – das Ganze noch bildlich durchzogen von Eisbergen, Meeren und Flusslandschaften.
Dieser in zwölf kleinere Teppiche aufgeteilten kartografischen Landschaft ist ein altes Lederhemd bildlich vorangestellt … schon etwas alt und getragen sieht es aus. Als Sujet bezeichnet es ebenso das, was Ingrid Wiener gesehen hat – nicht nur das, sondern was sie gleichzeitig auch besitzt: das Hemd von Lincoln Ellsworth, jenem amerikanischen Polarforscher, der ab 1925 in mehreren Expeditionen den Nordpol bis hin zu Alaska überflog und sich letztlich ab 1933 in der Antarktis aufhielt. In seiner vierten Antarktis-Expedition flog er zusammen mit dem Piloten Herbert Hollick-Kenyon in einer einmotorigen Maschine von der Nordspitze der Antarktischen Halbinsel quer über den Kontinent zur Bay of Whales an der Ostküste des Ross-Schelfeises und erbrachte damit den Nachweis, dass West- und –Ostantarktis eine gemeinsame Eiskappe haben und nicht getrennt sind.
Wie kommt es aber zu dieser speziellen Thematik auf dem 12-teiligen Gobelin von Ingrid Wiener?
Dazu gab sie selbst eine kurze Erläuterung: „Ich hatte vor einiger Zeit von einer Schweizer Freundin ein Lederhemd aus dem Schloss Lenzburg von Lincoln Ellsworth bekommen. Es war in ihrer Familie wie ein Schatz aufbewahrt worden. Ich hatte keine Ahnung von Lincoln Ellsworth und begann seine Bücher zu lesen. Er war bereits in jungen Jahren zum Bärenjagen in Kanada unterwegs und später für den Bau der kanadischen Eisenbahn. Schon bei unserer ersten Reise durch Kanada hatten wir fast die gleiche Strecke wie er nach Prince Rupert zurückgelegt.
Nachdem wir nach Dawson City in den Yukon übersiedelt sind und mit unserem Flugzeug (Oswald als Pilot) die arktische Tundra samt der Alaska Range durchflogen hatten, war mir klar dass ich ohne es vorher zu wissen an den gleichen Orten wie Ellsworth gewesen war.
Wir sind von NOME nach TELLER gefahren (eine der seltenen Straßen), ohne zu wissen, dass AMUNDSEN, NOBILE und ELLSWORTH die gleiche Strecke mit Hundeschlitten nach ihrer Landung mit der NORGE in Teller zurücklegten.
Da wir altersbedingt unsere arktischen Abenteuer einschränken müssen, habe ich sie auf den Gobelin übertragen. Es gibt dazu Fotos von unseren Besuchen in den kleinen Eskimosiedlungen und sonstigen Stationen wo wir gelandet sind, wie auch von unserem Leben im YUKON TERRITORY.“

Auf diese Weise „webt“ Ingrid Wiener einen „Geschichts-Teppich“ der verschiedenen (dokumentarischen wie historischen) Räume, Flächen, Orte und Stationen, die bildlich wie inhaltlich in- und zueinander fließen. Somit stehen ihre gewebten Bilder auch in der Bedeutung von einer „in Materie umgewandelte Zeit“. In ihrem Gobelin „verknüpft“ sie dabei ungleichzeitige Vergangenheiten mit dem Gegenwärtigen und ihrer eigenen Geschichte.

Die Bandbreite der Arbeiten Ingrid Wieners reicht von Gobelins über Zeichnungen, Fotografien, Aquarelle und Texten, bis hin zu Koch- und Gesangsperformances, Schallplatten und Filmen (u.a. mit VALIE EXPORT und Oswald Wiener). Ihre alltäglichen Beobachtungen von Orten und Menschen sowie ihrer selbst bestimmen ihre Arbeit maßgeblich.

In der Ausstellung für Jagla Ausstellungsraum präsentiert Ingrid Wiener weiterhin Fotos, Zeichnungen und Aquarelle zu diesem Thema sowie das originale Lederhemd von Lincoln Ellsworth.